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Ein Buch für die Stadt


Becker: „Ich schreibe nach Impuls“


Jürgen Beckers Roman „Schnee in den Ardennen“ steht im Mittelpunkt der siebten Auflage von „Ein Buch für die Stadt“. Kurz vor dem Start des Literaturfestes spricht der Autor im Interview über Heimat, Erinnerungen und seine Art zu schreiben.

Herr Becker, spüren Sie bereits, dass die nächsten zwei Wochen im Zeichen von „Schnee in den Ardennen“ stehen?

JÜRGEN BECKER Die Sonderausgabe ist schon jetzt, also vor dem Start, 12 000 Mal verkauft worden - für mich ist das eine ganz außergewöhnlich hohe Zahl. Der Suhrkamp Verlag veröffentlicht jeden Monat eine Liste mit seinen bestverkauften Büchern - da steht das „Buch für die Stadt“ jetzt an dritter Stelle.

Eine Überraschung?

BECKER Ja. Nun ist meine Sorge, dass manch einer enttäuscht werden könnte. Denn „Ein Buch für die Stadt“ - das lässt ja ein Buch erwarten, das sehr große Leserkreise anspricht. Ich fürchte, dass manche erwarten, dass hier die Lust am Schmökern so richtig befriedigt werden könnte. Im besten Fall findet für den Leser hier eine Entdeckung statt: Ach, diese Art des Schreibens kenne ich nicht, aber sie interessiert mich. Tatsächlich bestärken die ersten Reaktionen diese Hoffnung. Mir haben jetzt schon Leser geschrieben: „Ja, diese Prosa ist neu für mich, aber interessant.“

Sie nennen „Schnee in den Ardennen“ einen Journalroman.

BECKER Das journalhafte Schreiben bedeutet für mich, eine Art Chronik der vergehenden Augenblicke zu schreiben. Das Schreiben zu öffnen für den Gang der Bewusstseinsereignisse. Dazu gehören Assoziationen, dazu gehört die permanente Korrespondenz von Gegenwart und Vergangenheit. Es ist ein offenes Schreiben.

Das „offene Schreiben“ erinnert an Ihre frühe Maxime, den literarischen Status Quo aufzuheben.

BECKER Das war damals ein dogmatischer Ansatz. Da ging es mir darum zu klären, was ich überhaupt machen kann und was nicht. Mir ist aber immer noch ein Schreiben wichtig, das nicht vorbestimmt ist durch irgendeine Gattung. So kann ich nach wie vor mein Schreiben nicht definieren: Je nach Impuls entsteht ein Text, der lyrisch oder erzählerisch ist. Ich nehme auch nicht sehr ernst, was eine Gattung ist. Ich verhalte mich da ganz offen.

Mit Ihrem „dogmatischen Ansatz“ haben Sie ja in den 60er Jahren Aufsehen erregt.

BECKER Ich habe 1960 das erste Mal bei einem Treffen der „Gruppe 47“ gelesen, das waren Stücke, die dem Buch „Felder“ vorangingen. Das führte damals zu einigen Turbulenzen in der Kritik. Aber immerhin: Meine Texte waren ins Gespräch gekommen. Hans Magnus Enzensberger hatte diese Lesung nicht mitbekommen, er reiste erst am nächsten Tag an. Da kam er auf mich zu und sagte: „Ich habe gehört, was hier los war - das interessiert mich, geben Sie mir doch, bitte, das Manuskript mit.“ Ja, und dann erschien 1962 der Text in Enzensberger Anthologie „Vorzeichen“. So kam ich zum Suhrkamp-Verlag.

Dem Sie bis heute treu geblieben sind. Sie haben bei Suhrkamp sogar eine kurze Weile den Theaterverlag geleitet.

BECKER Der Verleger Siegfried Unseld meinte, das könnte ich doch mal machen, wenigstens für zwei Jahre. Nun gut, das Theater reizte mich schon immer. Aber dann merkte ich, dass das nicht so sehr mein Job ist: Ich bin nicht der Agent, der Stücke verkaufen kann - und darum ging es im Grunde. Es war schon vorher bei Rowohlt so gewesen, dass ich mich in einem Buchverlag nicht wohlfühlte - vor allem, was das eigene Schreiben betraf. Wenn ich als Lektor mit anderen Autoren arbeitete, musste ich mich selbst als Autor zurücknehmen. Da habe ich dann nichts geschrieben. Ich musste mich als Autor verleugnen. Und dann kam das Angebot des Deutschlandfunks, da war ich gerade mal in Köln, Hörspielchef zu werden.

Gab es da nicht denselben Spagat zwischen dem Dasein als Autor und dem als Redakteur?

BECKER Das war anders. Ich konnte zweierlei Leben leben. Da musste ich weniger lesen, da musste ich mehr hören. Ich war kein produzierender Dramaturg, sondern einer, der eine akustische Anthologie einkaufte. Die Einsamkeit im Studio habe ich sehr gerne gehabt. Und abends konnte ich mich dann an meinen Schreibtisch zuhause setzen. Das war für mich sehr gut zu trennen.

So lebten Sie denn wieder am Rhein und nicht am Main. Im „Buch für die Stadt“ heißt es von Jörn, er habe ein starkes Heimatgefühl. Wie steht es um Ihr eigenes Heimatgefühl?

BECKER Eine Weile habe ich nicht recht gewusst, wo meine Heimat ist. Denn wenn ich mich eine Zeit an einem Ort aufhalte, habe ich die Neigung, dass ich mich dort zuhause und wohl fühle. Schon nach ein paar Tagen - das habe ich eben wieder in Güstrow erlebt - denke ich: Was für eine schöne Stadt! Hier könnte ich wohnen. Ich hätte ebenso in Berlin leben können, wo viele meiner Freunde und Kollegen sind. Mich fasziniert diese Stadtlandschaft mit ihren Seen und Kanälen. In Berlin bin ich auch ein anderer Mensch: Viel aufgeschlossener, viel lebendiger. Da macht es mir nichts aus, abends mit der S- oder U-Bahn irgendwohin zu fahren. Aber hier im Rechtsrheinischen laufe ich doch nicht zur Straßenbahn! Deshalb ist mein Heimatgefühl ein schwebendes. Aber natürlich weiß ich: Hier komme ich her - aus dem Rheinland, aus dem rechtsrheinischen Köln. Ich bin zwar alles andere als ein Berufskölner. Aber hier gibt es ein Magnetfeld, das mich immer wieder anzieht.

Herr Becker, Sie schauen in Ihrem Werk intensiv auf die rheinische Region. Wie hat die sich im Laufe der Jahrzehnte verändert?

BECKER Na ja, der Unterschied zwischen Stadt und Land verschwindet. Das Oberbergische, das ich gut kenne, war einst eine isolierte Gegend. Das ist heute ganz anders. Die Distanzen zwischen Metropole, Vorort und Dorf sind durch die Verkehrsanbindungen verschwunden. Benötigte ich früher vielleicht drei Stunden, um nach Waldbröl zu kommen, so ist es heute eine Dreiviertelstunde. Gerade deshalb hat man das Gefühl, dass die Zeit so schnell vergeht.

Wo sehen Sie denn die schwindenden Unterschiede?

BECKER Nehmen Sie die Fußballvereine! Im Rechtsrheinischen gab es früher den VfR Köln, das war Höhenberg, außerdem den Mülheimer Sportverein und Preußen Dellbrück. Dann gab es auch noch einen Verein, den keiner kannte, das war Bayer Leverkusen. Das Verhältnis der Vororte hat sich dann am Sonntag beim Spiel ausgedrückt. Das waren Kämpfe! Mittlerweile sind die meisten Vereine fusioniert worden. Mülheim, Vingst, Brück, Dellbrück, Kalk, Höhenberg - das ist jetzt alles Viktoria Köln. All diese großen Konkurrenzen, feindseligen Nachbarschaften und Kumpelverhältnisse sind weg. Auch der 1. FC Köln ist ja 1948 aus den Vereinen Sülz 07 und Klettenberger BC entstanden.

Gehen Sie denn am Wochenende ins Stadion oder auf einen Fußballplatz?

BECKER Nein, da informiere ich mich aus dem „Stadt-Anzeiger“. Radio höre ich ganz selten, was komisch ist, weil ich ja mal ein Radiomensch war. An der Tankstelle hole ich mir dann auch noch andere Zeitungen. Ich war immer ein Zeitungsmensch, habe schon als Kind Zeitung gelesen. Das war die Sucht nach Neuigkeiten. Die Zeitung ist die tägliche Chronik, das Journal, das auch für mein Schreiben wichtig geworden ist. „Schnee in den Ardennen“ heißt ja auch Journalroman, Journalsätze gibt es jetzt im neuesten Buch „Im Radio das Meer“.

Die Erinnerung, nicht zuletzt an Weltkrieg und Nachkrieg, spielt in „Schnee in den Ardennen“ eine große Rolle. Drängt diese Kriegs-Erinnerung heute stärker als früher ins Bewusstsein?

BECKER Sicher ist das auch eine Altersfrage. Im Alter rückt die Kindheit immer näher. Das kennt jeder Mensch. Für mich ist die Erinnerung schon sehr früh eine Wirklichkeit gewesen, die ebenso vorhanden ist wie die jetzt aktuell verlaufende Wirklichkeit. Für mich ist klar, dass das, was ich jetzt erlebe, das Resultat ist von etwas, das vorher gewesen ist. Der Augenblick jetzt, da wir hier sitzen, hat eine Vorgeschichte. Daher ist Erinnerung für mich immer Teil von Gegenwart - nicht nur im Privaten, sondern auch im allgemeinen öffentlichen Leben. Ich versuche, diese Gleichzeitigkeit im Bewusstsein präsent zu halten. Da mischt sich dann eben fortwährend Gegenwart und Erinnerung.

Hatten Sie schon einmal den Wunsch, etwas zu vergessen?

BECKER Nein, ich hatte nie den Wunsch, etwas zu vergessen, ich mache vielmehr die Erfahrung, dass ich so viel vergesse - leider. Dass alles verblasste Filme sind und es sehr viel Mühe macht, die Farben aufzufrischen und die Ereignisse wiederzufinden. Die Erinnerung ist wie ein Fotoalbum: Ich sehe auf den Bildern verschiedene Situationen, aber ich weiß nicht, was um sie herum gewesen ist. Die Beziehung herzustellen zwischen den Augenblicken - das ist Teil meiner Arbeit. Ich denke mir: Im Kopf ist alles da, was wir erfahren haben - aber ich finde es nicht. Es ist nicht gelöscht, sondern abgesackt in Tiefen, an die ich nicht herankomme.

Die Erinnerung kann immerhin stimuliert werden. Können nicht beispielsweise Gerüche dazu führen, vergessene Szenen wieder zu finden?

BECKER Ja, wie bei Marcel Proust. Oder durch einen Gegenstand. Mir hilft vor allem das Schreiben, denn das ist ein Erinnerungsvorgang.

Sie sind ein Zeitgenosse, der sich nicht gerne von Dingen trennt?

BECKER Das stimmt. Die Scheune in Odenthal steht voller Gerümpel. Und hier in Brück vor der Garage sehen Sie zwei Spaten. Die hatte meine Frau schon für den Sperrmüll hingestellt. Die habe ich gleich wieder reingeholt. Das sind uralte Spaten. Einer stand schon hier, als wir 1968 in das Haus eingezogen sind. Der ist zwar nicht mehr brauchbar. Aber es ist ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten und erzählt eine eigene Geschichte. Jeder Gegenstand hat seine Geschichte - eine alte Tasse, ein Einmachglas. Oft kann man diese Dinge auch noch gebrauchen. Ich werfe deshalb keine Schrauben und Nägel weg. Das ist kein Kult, den ich mit diesen Gegenständen treibe, aber sie haben auch ihre Würde. Ich beurteile diese Gegenstände weniger nach ihrem Gebrauchswert als nach ihrem Erinnerungswert. Bei diesem Thema bin ich immer sehr schnell bei meiner Kritik an unserer Wegwerfgesellschaft.

Wir sind noch im Jubiläums-Jahr des Mauerfalls. Was hat die Wende vor 20 Jahren Ihnen bedeutet?

BECKER Mein Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ von 1999 ist nicht ohne diesen politischen Schnitt denkbar. Die Öffnung hat für mich, was meine Biografie betrifft, Folgen gehabt. Ich habe zeitlebens nie die DDR betreten wollen - aus privaten und vor allem aus politischen Gründen. Ich habe darauf verzichtet, Städte, Landschaften, Gegenden wiederzusehen, die ich als Kind kannte. Ich bin aufgewachsen in Köln. Dann wurde mein Vater 1939 nach Erfurt versetzt. In Thüringen sind wir bis 1947 geblieben. Ich habe da entscheidende Jahr verbracht, auch die beiden ersten Jahre der „Sowjetisch Besetzten Zone“. Das war eine sehr unangenehme Erfahrung. Es war geradezu eine Flucht, wenn auch nicht unter den gefährlichen Bedingungen der späteren Jahre. Die Grenze war noch relativ offen.

Sie sind zunächst nicht mehr in den Osten gereist?

BECKER Als wir wieder in Köln waren, hatte ich nicht den Wunsch, nach Thüringen zurückzukehren. Das hat sich in den Jahrzehnten so verfestigt. Es hat auch zu einer inneren Blockade geführt: Ich verzichte auf ein Stück Kindheit, meine Mutter liegt begraben in Cottbus, und ich fahre nicht einmal zum Grab hin. Ich streiche da etwas aus meinem Leben, das die andere Seite meiner Biografie hätte sein können. Dann kam unverhofft die Öffnung der Grenze, die Einheit - und bei mir persönlich löste sich die Blockade.

In dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ heißt es über die Deutschen in Ost und West: „Zwischen uns liegt so etwas wie ein Nebel“. Hat der sich gelichtet?

BECKER Einerseits ja. Andererseits sind neue Nebel entstanden. Mich hat immer interessiert, wie die Menschen dort mit ihren Biografien klarkommen. Damit verbindet sich auch die Frage, wozu wir Deutschen fähig sind - zur Demokratie, aber auch zu einem Leben unter diktatorischen Verhältnissen, wie es in der DDR der Fall war. Es hat in Deutschland zwei Biografie-Muster gegeben.

Bis zur Wende.

BECKER: Die hat mich mit dem Blick auf die eigenen Landsleute sehr froh gestimmt. Sie hat gezeigt: Auf die Dauer halten auch wir, die Deutschen, eine Diktatur nicht aus. Der Mauerfall ist ja nicht von außen gesteuert worden, sondern es war die innere Erhebung. Die Bürger der DDR wollten vielleicht gar keine Wiedervereinigung, sondern vor allem die Freiheit. Aber es hat mich sehr berührt, dass die Deutschen zu einer Revolution fähig sind, die auch noch friedlich verläuft.

Bundespräsident Roman Herzog hat seinerzeit empfohlen, man möge sich mehr Geschichten erzählen.

BECKER: Natürlich ist es gut, wenn man die Geschichten der anderen erfährt. Vor allem jüngere Leute müssen etwas über die Bedingungen erfahren, unter denen man in einer Diktatur lebt - entweder als einer, der überzeugt ist, oder als einer, der sich angepasst hat, oder einer, der Widerstand leistet. Was sind das alles für Situationen? Das hat mich sehr zurückhaltend gemacht bei der Beurteilung von Lebensläufen in einer Diktatur. Innerlich wehrt sich alles gegen die Anpassung. Aber ich muss mich stets fragen: Wie hätte ich selbst reagiert? Ich weiß doch, dass ich als Pimpf sehr gerne als Hitlerjunge mitgemacht habe. Ich frage mich: Wenn wir den Krieg nicht verloren hätten, was wäre aus mir geworden? Vielleicht kein absoluter Nazi, aber womöglich hätte ich einen Posten im Großdeutschen Rundfunk bekommen. Das hätte bedeutet: Angepasst zu sein.

Wenn Sie Bilanz ziehen: Hat Deutschland mit seiner Geschichte der letzten zwei Jahrzehnte Glück gehabt?

BECKER: Eindeutig ja. Ich verkenne nicht die Probleme. Es gibt wirtschaftliche Sorgen, und die Integration ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie man sich das erhofft hat. Aber es ist auch im Osten - auch wirtschaftlich - sehr viel erreicht worden. Und international gesehen: Niemand muss Angst haben vor den Deutschen. Im Gegenteil: Die Deutschen werden gebraucht. Ich denke, die Geschichte hat den Deutschen eine Chance gegeben - und die Deutschen haben sie ergriffen und das Beste daraus gemacht.


Das Gespräch führte Martin Oehlen

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